NRW Magazin:
Der Öffentliche Dienst leidet unter fehlender Attraktivität und zunehmenden Krankenstand. Über 26.000 Stellen können derzeit nicht besetzt werden. Die Beschäftigten klagen über Arbeitsverdichtung und vertretungsbedingte Arbeitsüberlastung durch den hohen Krankenstand oder der Pensionierung von Kollegen. Zugleich nehmen die Stressbelastungen der Beschäftigten auf den Wegen zur und von der Arbeit durch einen unzuverlässigen ÖPNV oder häufige Verkehrsstaus weiter zu und verkürzen die Erholungsphasen. Wie könnte nach Ihrem Dafürhalten eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeitsorte hier entgegenwirken?
Simon Rock:
Zum Stand 1. Januar 2024 haben sich über alle Ressorts rund 20.800 unbesetzte Stellen aufsummiert, darunter 16.884 im Beamtenbereich und 3.918 im Angestelltenbereich. Das stellt eine erhebliche Verbesserung gegenüber dem 1. Juli 2023 und auch gegenüber dem 1. Januar 2023 dar. Wir werden zwar erst später sehen, ob wir von einer Trendwende sprechen können. Möglicherweise haben wir die Talsohle aber durchschritten. Ich will aber auch nicht sagen, dass uns das zufriedenstellt. Ich persönlich befürworte eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeitsorte in den vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, in denen es möglich ist, sehr. Es kann die Beschäftigten gut entlasten, wenn Anfahrtswege wegfallen oder durch näher liegende Co-Working-Spaces verringert werden. Gleichzeitig profitiert die Umwelt. Vor wenigen Tagen wurde in Siegen, meiner Geburtsstadt, ein zweiter Co-Working-Standort des Landes eröffnet. Unabhängig von den Co-Working-Spaces steht vielen Beschäftigten bereits die Möglichkeit des mobilen Arbeitens zur Verfügung. Das ist natürlich in einigen Berufen besser umsetzbar als in anderen. Eine Lehrkraft kann kein Home-Office machen, aber für jemanden aus der Finanzverwaltung ist das zum Beispiel besser umsetzbar. Dort wo es geht, arbeiten wir als Koalition daran, die Rahmenbedingungen zu verbessern zum Beispiel durch geeignete IT-Systeme und E-Akten. Das geht nicht alles von heute auf morgen, aber ich bin der Überzeugung, dass die Richtung stimmt. Nicht zuletzt sind flexible Arbeitszeiten ein Hebel, um die allgemeine Attraktivität des Öffentlichen Dienstes und auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie aber auch von Beruf und Ehrenamt zu erhöhen.
NRW Magazin:
Die Bundessprecherin der Grünen Jugend Katharina Stolla forderte kürzlich in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ perspektivisch die Einführung der 20-Stunden-Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich. Welche Vorbildfunktion kommt bei dieser Forderung, Ihrer Ansicht nach, dem Öffentlichen Dienst als Arbeitgeber zu und wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zur zeitnahen Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit der Landesbeamtinnen und -beamten in NRW auf 39 Stunden pro Woche?
Simon Rock:
Wir alle wissen, dass es zur DNA von Jugendverbänden gehört, auch mal provokante Forderungen aufzustellen. Aber zur Forderung der Gewerkschaften nach der 39-Stunden-Woche: Die Gewerkschaften haben immer für mehr Lohn und geringere Arbeitszeiten gekämpft und seit dem 19. Jahrhundert viel erreicht. Das ist gut und begrüßenswert. Wir müssen jedoch ehrlich sein und abwägen angesichts des Fachkräftemangels, des demografischen Wandels und der finanziellen Situation des Landes, die eine nennenswerte Reduzierung der Arbeitszeit derzeit leider nicht zulassen. Auch wenn ich die Forderung nach einer Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 39 Stunden nachvollziehen kann, sehe ich angesichts der derzeitigen Rahmenbedingungen leider keine Möglichkeit, dass wir das kurzfristig umgesetzt bekommen. Abgesehen von den bestehenden Aufgaben und den unbesetzten Stellen haben wir auch noch einige Zukunftsinvestitionen und Zukunftsaufgaben im Klimaschutz oder der Bildung vor uns, die der Staat auch umsetzen muss.
NRW Magazin:
Gegenwärtig wird viel über das „Job-Rad“ und das „Deutschlandticket“ diskutiert. Ob längerer Anfahrtszeiten und -wege durch ein unpassendes Nahverkehrsangebot, bleibt für einen nicht unerheblichen Teil der Beschäftigten jedoch das Auto weiterhin des Verkehrsmittel Nummer eins auf dem Weg zur Arbeit. Welche konkreten Mobilitätsangebote könnten aus Ihrer Sicht die Situation der Pendlerinnen und Pendler kurzfristig verbessern?
Simon Rock:
In den Tarifverhandlungen ist die Möglichkeit für das „Job-Rad“ für Tarifbeschäftigte erkämpft worden, was ich ausdrücklich begrüße, weil Radfahren die beste Möglichkeit der Fortbewegung auf kurzen Strecken ist: klimaneutral, gesundheitsfördernd, günstig und schnell. Auch Staus und Unzulänglichkeiten des ÖPNV werden so umgangen. Ein Zuschuss zum „Deutschlandticket“ wurde im TV-L nicht vereinbart, was ich persönlich bedaure. Die momentane Haushaltslage des Landes erschwert es leider extrem, den Zuschuss „on top“ zu bezahlen, zumal wir auch ganz klar gesagt haben, dass wir den Tarifabschluss für die Beschäftigten der Bundesländer 1:1 übernehmen. 1:1 heißt zu 100 Prozent, nicht zu 95 oder 105 Prozent. Wenn wir überlegen, wo wir vor anderthalb Jahren standen, ist das „Deutschland-Ticket“ aber bereits eine erhebliche Verbesserung für die Nutzer des ÖPNV: verbindliche Regeln, allgemein gültig und vergleichsweise günstig. Vorher hat man im VRR als Pendler gerne mal dreistellige Monatsbeträge bezahlt, jetzt könnte man theoretisch für 49 Euro über die Landesgrenzen und deutschlandweit unterwegs sein. Das Geld ist für die Nutzung des ÖPNV nicht mehr der limitierende Faktor, sondern die Zeit und ein Stück weit auch die Zuverlässigkeit. Im ländlichen Raum und einigen städtischen Bereichen müssen wir noch etwas tun, und wir haben uns das vorgenommen, um die Mobilitätsangebote zu verbessen. Immer mit dem Ziel einer klimaneutralen Landesverwaltung. Bei den Straßen gilt, dass wir als Koalition den Erhalt und die Sanierung der Straßeninfrastruktur priorisieren. Jedoch schauen wir bei Ausschreibungen von Projekten nicht nur auf das günstigste Angebot, sondern auch auf den zügigen Abschluss der Maßnahme. Auch unterstützen wir die Kommunen bei der Vernetzung von Verkehrsträgern, zum Beispiel durch den Ausbau von P+R-Parkplätzen in stadtnahen Bereichen für Pendler zum besseren Umstieg auf den großstädtischen ÖPNV.
NRW Magazin:
Angesichts des demografischen Wandels werden in den nächsten Jahren zehntausende öffentlich Beschäftigte in den Ruhestand gehen. Bei zunehmender Arbeitsbelastung werden viele Stellen jedoch nicht mehr mit ausreichend qualifizierten Personal besetzt werden können. Welchen Beitrag können aus Ihrer Sicht die forcierte Digitalisierung der Verwaltung und der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) zur Arbeitserleichterung für die öffentlich Beschäftigten leisten und welche Maßnahmen werden von der Landesregierung derzeit umgesetzt?
Simon Rock:
Machen wir uns nichts vor, Künstliche Intelligenz, wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Arbeitswelt mehr verändern, als wir uns das heute vorstellen können. Das wird auch am Öffentlichen Dienst nicht vorbeigehen. Angesichts des Fachkräftemangels sehe ich nicht, dass jemand deswegen Sorge um seinen Arbeitsplatz haben muss. Ich sehe eher im Gegenteil, dass Künstliche Intelligenz entlasten und zur Verbesserung der angespannten Personal- und Belastungssituation beitragen kann. KI wird uns vor Herausforderungen stellen, sie wird Investitionen benötigen, um die Anwendungsmöglichkeiten flächendeckend und datenschutzkonform bereitstellen zu können. Wir sind als Land in der guten Position von dieser Entwicklung zu profitieren. Wir haben bereits eine Menge Expertise in diesem Bereich, beispielsweise in der Steuerverwaltung, um Steuererklärungen automatisch zu bearbeiten und die Mitarbeiter in der Finanzverwaltung zu entlasten. Auch im neu gegründeten Landesamt zur Bekämpfung der Finanzkriminalität wird KI eine große Rolle spielen und die Verfolgung dieser schweren Straftaten effektiver gestalten. Daneben legen wir jedoch auch einen Fokus auf den weiteren Bürokratieabbau.
NRW Magazin:
Der Öffentliche Dienst ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Ohne seine Existenz würde das gesellschaftliche Zusammenleben in unserem Land kaum funktionieren. Nicht nur Sicherheit, Soziales und Bildung wären gefährdet, ohne die Umsetzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens durch die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, würden Willkür, Anarchie und Profitgier zu einem „Recht des Stärkeren“ führen. Hierfür ist hochqualifiziertes und motiviertes Personal unerlässlich. In welchem Umfang sollte Ihrer Ansicht nach, die Besoldung der öffentlich Beschäftigten stärker an leistungsorientierten Merkmalen ausgerichtet werden? In welchem Umfang könnten berufsfachliche Weiterbildung oder Mehrarbeit der Beschäftigten durch ein flexibles Zulagenwesen stärker gefördert werden?
Simon Rock:
Wir arbeiten intensiv an Änderungen im Laufbahnrecht, das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, das gehen wir jetzt auch an. Wir wollen so die beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten verbessern und für besonders engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnellere Beförderungsmöglichkeiten vorsehen. Das ist für uns ein wichtiger Schritt, um den Öffentlichen Dienst attraktiver zu gestalten und zu flexibilisieren. Darüber hinaus haben wir uns als Koalition vorgenommen, das Zulagenwesen zu überarbeiten. Da wurde in der Vergangenheit viel liegen gelassen. Im Rahmen der bereits begonnenen Modernisierungsoffensive erarbeitet die Landesregierung gemeinsam mit den Gewerkschaften Handlungsvorschläge. Auch hier müssen wir einerseits dem angespannten Landeshaushalt Rechnung tragen, gleichzeitig die Beschäftigten entlasten und die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes erhöhen.
NRW Magazin:
Ein viel diskutiertes Thema auf allen Ebenen unserer Gewerkschaftsarbeit ist weiterhin das Abstandsgebot der Besoldung zur Grundsicherung. Aus Sicht des DBB NRW wird dabei der Fokus zu sehr auf die monetäre Komponente gelegt und zu wenig auf die Arbeitsbedingungen. Gerade Beschäftigte „an der Front“ klagen über Schichtdienste, weite Arbeitswege, viele Konfliktsituationen oder erhöhtes Gewaltpotenzial ihres Gegenübers. Wie würden Sie junge Erwachsene von einem Berufsleben im Öffentlichen Dienst überzeugen?
Simon Rock:
Ich bin der Auffassung, dass die Arbeit im Öffentlichen Dienst grundsätzlich sehr attraktiv ist: Sichere Stelle, gute Arbeitsbedingungen und zudem wissen die Beschäftigten, dass sie einen Dienst für die Gesellschaft erbringen. Ich finde, das ist eine nicht zu unterschätzende Motivation. Unsere Landesbeschäftigten sorgen für Sicherheit, Bildung und Steuergerechtigkeit. Weitere Verbesserungen – über Mobilität und Flexibilität der Arbeitsgestaltung bis zum Zulagenwesen oder dem Laufbahnrecht – haben wir ja bereits umgesetzt, beziehungsweise sind dabei es anzupacken und haben ja auch noch einiges vor. Darüber hinaus müssen wir uns auch darüber unterhalten, wie junge Menschen, junge Erwachsene gezielt angesprochen werden können, um überhaupt auf den Öffentlichen Dienst als attraktiver Arbeitgeber aufmerksam gemacht zu werden. Ich finde Influencer-Kampagnen auf Social Media eine gute Maßnahme, genauso wie die Präsenz an Schulen oder auf Jobbörsen. Aber auch junge Menschen im ländlichen Raum können wir vom Öffentlichen Dienst überzeugen, zum Beispiel in einer zentralisierten Oberbehörde zu arbeiten, wenn wir die Themen flexible Arbeitsorte oder Co-Working-Spaces stärker in den Fokus rücken. Als letzten Gedanken möchte ich auch anmerken, dass der Öffentliche Dienst attraktiv ist, wenn junge Menschen das Gefühl haben, ich kann in meiner Position was bewegen, ich kann auch was entscheiden, meine Expertise wird wertgeschätzt.
Das Interview führten Roland Staude und Marcus Michel.
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